Gastbeitrag

Selbstgesteuertes Lernen an Schulen in schwieriger Lage

von Regine Seemann
veröffentlicht am 21.03.2024
Lesezeit: 9 Minuten

„Mit meinen Kindern geht das nicht!“, „Meine Klasse braucht klare Strukturen!“ oder „Das überfordert meine Schülerinnen und Schüler!“, Sätze wie diese fallen häufig, wenn es um offene Formen des Unterrichts geht – vor allem an Schulen mit niedrigem Sozialfaktor. Die Schüler:innen könnten mit Freiheiten beim Lernen nun mal nicht umgehen, heißt es dann. Aber bekommen es Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern tatsächlich besser hin, ihren Lernprozess weitgehend selbst zu organisieren? Die Schulleiterin einer Hamburger Grundschule schildert ihre Erfahrungen.

Die Schule An der Burgweide liegt im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, einem sozialen Brennpunkt. Seit es in Hamburg Erhebungen zum Sozialfaktor einer Schule gibt, den sogenannten KESS-Index, hat sie den KESS-Faktor 1 – hier werden entsprechend eher Kinder aus schwierigen sozio-ökonomischen Verhältnissen beschult. Noch vor drei Jahren bezogen 85 Prozent der Eltern unserer Kinder staatliche Hilfen. An unserer Schule werden aktuell 29 verschiedene Muttersprachen gesprochen. 80 Prozent der Familien leben in der Großbausiedlung Kirchdorf-Süd, zum Teil in äußerst schwierigen Verhältnissen.

Obwohl es sich hier augenscheinlich um eine sehr herausfordernde Schüler:innenschaft handelt, hat die Schulgemeinschaft 2011 entschieden, auch Kinder mit speziellen sonderpädagogischen Förderbedarfen zu beschulen und 2013 das jahrgangsübergreifende Lernen eingeführt.  Statt in altershomogenen Klassenverbänden lernen die Kinder nun in altersgemischten Lerngruppen. So wurde die Heterogenität ganz bewusst noch weiter verstärkt. Von 2011 bis 2021 waren wir eine von vier Versuchsschulen im Schulversuch „Sechsjährige Grundschule“ der Hamburger Schulbehörde und führen diese Form bis heute weiter.

»[…] genau das ist es, was wir unseren Schüler:innen, die zum Teil aus sehr bildungsfernen Elternhäusern stammen, mitgeben möchten: Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten zu erlangen.«

Regine Seemann

Alle diese Maßnahmen haben ein Ziel: Erhöhung der Bildungsgerechtigkeit für unsere Schüler:innen, verbunden mit möglichst wenig Brüchen in deren Bildungsbiografien. Bei dieser heterogenen Schüler:innenschaft ist es schlichtweg nicht erfolgversprechend, wenn alle Kinder zur gleichen Zeit dasselbe lernen. Nur über das Lernen mit größtmöglicher Selbststeuerung bzw. Selbstorganisation schaffen die Kinder es, Schlüsselkompetenzen wie Reflexionsfähigkeit, Teamfähigkeit und Planungsfähigkeit zu erlangen. In unserer Schule werden Fehler nicht als vermeidungswürdig gesehen, sondern als wichtige Meilensteine auf dem Weg zum Erfolg. Diese Fehlerkultur sowie die vielfältigen Möglichkeiten der Kinder, sich an verschiedenen Aufgabenformaten ausprobieren zu können, steigert die Selbstwirksamkeit. Und genau das ist es, was wir unseren Schüler:innen, die zum Teil aus sehr bildungsfernen Elternhäusern stammen, mitgeben möchten: Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten zu erlangen.

Der Weg unserer Schule zum selbstorganisierten Lernen

Im Zuge der Umwandlung in eine gebundene Ganztagsschule wurde 2008 der Wochenstrukturplan überarbeitet. Durch den Ganztag war mehr Zeit zum Lernen zur Verfügung. Es wurde jeden Tag eine freie Arbeitszeit ausgewiesen, in der die Kinder in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch selbstgesteuert arbeiten sollten – also ohne Vorgabe von Lernzielen durch die Lehrkraft. Diese absolute Freiheit beim Lernen führte leider nur einen geringen Prozentsatz der Kinder zum Erfolg. Die Ergebnisse der Schule beim standardisierten Hamburger Leistungstest KERMIT wurden immer schlechter, das Kollegium zunehmend unzufriedener. Es kam zu einer deutlichen Spaltung zwischen Kolleginnen und Kollegen, die die freie Lernzeit beibehalten und denen, die sie zugunsten gelenkter Unterrichtsformen aufgeben wollten. 

Als tragfähiger Kompromiss erwiesen sich die Lernlandkarten, die 2015 eingeführt wurden. Der große Unterschied zur freien Arbeitszeit ist der, dass mit den Lernlandkarten die Lernziele am Anfang des Schuljahres von der Lehrkraft vorgegeben werden. Dazu gibt es ein Starterpaket mit Lernzielaufklebern in den drei Fächern Mathematik, Deutsch und Englisch, das die Schüler:innen immer präsent in ihrem Ordner, dem sogenannten Lernbegleiter, haben. In diesem Lernbegleiter befindet sich auch die „Lernweltkarte“ der Schule, die einen Überblick über die verschiedenen Kontinenten des schulischen Lernens bietet. 

Die Kinder gestalten ihre individuellen Lernlandkarten eigenständig, diese können also ganz unterschiedlich aussehen. Manche Kinder malen eine Unterwasserlandschaft, manche einen Bergpfad und wieder andere eine verschlungene Straße. Die Lernzielaufkleber haben unterschiedliche Farben für die jeweiligen Fächer. Dies hilft den Schüler:innen und den Lehrkräften, den Überblick zu behalten. Denn für alle Fächer zusammen gibt es nur die eine Lernlandkarte.

Foto: Privat

Lernlandkarte

In den Lerngruppenräumen (Klassenräumen)  stehen Materialien bereit, mit denen die Lernziele bearbeitet werden können. Das sogenannte Lernbüro umfasst die Unterrichtsstunden in den Hauptfächern. Während dieser Zeit haben die Kinder nun die Möglichkeit auszuwählen, an welchen ihrer Lernziele sie arbeiten möchten. Die Kinder arbeiten entweder individuell an ihren Lernzielen oder nehmen an Input-Phasen teil, beispielsweise Einführungen in die schriftlichen Rechenwege oder Rechtschreibkonferenzen.

»In regelmäßigen Abständen finden Lernzielgespräche statt, in denen die Lehrkraft gemeinsam mit den Kindern das Lernen reflektiert.«

Regine Seemann

Wenn die Schüler:innen der Meinung sind, dass sie ein Lernziel erfolgreich bearbeitet haben, wenden sie sich an die Lehrkraft. Abhängig von dem jeweiligen Lernziel machen die Kinder einen Test, eine Präsentation oder sie erklären einem anderen Kind, was sie gelernt haben. Wenn die Lehrkraft zustimmt, dass das Lernziel erreicht ist, darf das Kind den Lernzielaufkleber auf seine Lernlandkarte kleben. So entstehen äußerst kreative Lernlandschaften, die zum Teil mehrere Meter lang werden, da die Kinder neue Lernlandkarten ankleben, wenn die bearbeiteten voller Aufkleber sind. 

In regelmäßigen Abständen finden Lernzielgespräche statt, in denen die Lehrkraft gemeinsam mit den Kindern das Lernen reflektiert. Ein mögliches Thema dieses Austauschs kann sein, dass der:die Schüler:in berichtet, was schwer oder leicht gefallen ist. Gemeinsam mit dem Kind legt die Lehrkraft fest, was die folgerichtigen nächsten Lernziele sein können und gibt eventuell neue Lernzielaufkleber heraus. 

Diese einheitliche Form der Arbeit in den Lerngruppen hat viele Vorteile. So kann im Vertretungsunterricht zum Beispiel immer im Lernbüro gearbeitet werden. Jede:r unserer Schüler:innen kennt die Lernlandkarten und kann auch bei Vertretungslehrkräften selbstständig an den Lernzielen arbeiten.

Jahrgangsübergreifendes inklusives Lernen als Nährboden für Selbstorganisation

Die Jahrgangsmischung in der Schule An der Burgweide in den Lerngruppen der Stufen 1 bis 3 und der Stufen 4 bis 6 ist ein idealer Rahmen für das selbstorganisierte Lernen. Im Lernbüro finden sich Lerngemeinschaften ohne viel Intervention von Lehrkräften zusammen. Nicht selten bestehen sie aus den Kindern der verschiedenen Altersstufen. So gibt es Drittklässler:innen, die zum Beispiel aufgrund ihres sonderpädagogischen Förderbedarfs ähnliche Lernziele bearbeiten wie Erst- oder Zweitklässler:innen. In einem altershomogenen Klassenverband wären diese Kinder immer die mit den schwächsten Leistungen und hätten es schwer, Kinder zu finden, mit denen sie gemeinsam Aufgaben bearbeiten können. Kognitiv starke Kinder der niedrigeren Stufen können wiederum mit Kindern höherer Stufen gemeinsam lernen – denn warum sollte man sie von kognitiv aktivierenden Aufgaben fernhalten, nur, weil sie jünger sind?

Neben der individualisierten Arbeit im Lernbüro gibt es durchaus auch frontale Phasen, meist für einzelne Gruppen von Kindern. Auch hier müssen diese Kleingruppen keineswegs altershomogen sein. So kommt es etwa häufig vor, dass Kinder, deren Schriftspracherwerb noch nicht gefestigt ist, am Anfang des Schuljahres mit den Erstklässler:innen, die neu in die Lerngruppe kommen, gemeinsam einen Buchstabenkurs absolvieren oder ihnen noch einmal die Addition erklärt wird.

Digitalisierung und selbstorganisiertes Lernen – der Mix macht’s

Jeder unserer Lerngruppenräume und auch die Fachräume sind mit Displays ausgestattet. Obwohl sie alle an den kurzen Seiten des Raums angebracht sind, stehen sie selten im Zentrum des Unterrichts. Schon einige Zeit, bevor Smartboards in die Klassen kamen, gab es Teams, die ihre Wandtafeln demontiert haben, um ein Zeichen gegen den Frontalunterricht zu setzen. Die interaktiven Whiteboards werden beispielsweise genutzt, um Filme zu zeigen. In unseren Lerngruppen der Stufen 4 bis 6 ist ein fester Programmpunkt, dass einmal in der Woche die Kindernachrichten „logo!“ mit allen angesehen werden. Auch werden die Displays häufig als Zeitwächter genutzt. 

Für das individualisierte Lernen in der Lernbürozeit haben die Kinder Laptops oder Tablets, auf denen einige Lern-Apps laufen. Alle Lerngruppen arbeiten mit dem Anybook Reader, einem Sprachaufnahme- und Wiedergabegerät in Stiftform, der gerade bei noch nicht lesenden Kindern die Bearbeitung von Aufgaben erleichtern kann. 

Trotz der vielen Möglichkeiten, die die Kinder mit den digitalen Geräten haben, ist es uns wichtig, ihnen auch einen Überblick über analoge Medien zu vermitteln. In vielen Lerngruppen werden zum Beispiel Vinyl-Schallplatten gehört. Es ist ein ganz besonderes Ritual, den Schallplattenspieler zu bedienen und auch eine gute motorische Übung. Unsere Schule verfügt zudem über eine Freinet-Druckerei. Hier können die Kinder ihre eigenen Texte mit Lettern setzen und mit einer kleinen Presse drucken. Viele Kinder mögen diese haptische Erfahrung, um zur Schrift zu kommen. Durch das Drucken setzen sie sich sehr intensiv mit ihren selbstgeschriebenen Geschichten auseinander. Wir finden es wichtig, wo immer es geht, den Kindern verschiedene Möglichkeiten anzubieten, um zum Ziel zu kommen.

Ein Konzept, das Früchte trägt

Die Erfahrungen mit selbstgesteuertem Lernen haben uns gezeigt, dass jedes Kind in die Lage versetzt werden kann, in seinem Rahmen selbstorganisiert zu lernen. Dies ist natürlich ein Prozess und muss bei allen Kindern angebahnt werden. Gerade der geöffnete Unterricht bietet mit seinen hochkomplexen Strukturen die Möglichkeiten dazu. Jedes Kind darf in seinem Tempo lernen, wird also weder über- noch unterfordert. Digitale Medien sind eine wichtige Ergänzung für das Lernen, wenn sie einem konkreten didaktischen Zweck dienen. Wichtig ist vor allem, dass die Kinder ermutigt werden, voneinander zu lernen. Besonders gut funktioniert dies im jahrgangsübergreifenden inklusiven Lernen. 

Die Empfehlung, die ich geben kann: einfach anfangen und mit kleinen Einheiten ins individualisierte Lernen zu starten. Nehmen Sie sich die Zeit, an Schulen zu hospitieren. Ein Einblick in schulische Praxis ist meist einprägsamer als ein theoretischer Artikel. Natürlich wird auch durch das selbstorganisierte Lernen keine umfängliche Bildungsgerechtigkeit geschaffen, da zu viele äußere Faktoren neben den schulischen eine Rolle spielen. Dennoch ist die Steigerung der Selbstwirksamkeit und der Erwerb von wichtigen Schlüsselkompetenzen ein Schritt in die richtige Richtung.

Regine Seemann

Regine Seemann ist in Hamburg geboren und aufgewachsen, wo sie auch ein Lehramtsstudium in Deutsch und Biologie absolvierte. In den zwanzig Jahren als Leitung der Schule An der Burgweide hat sie einige umfassende Schulentwicklungsprozesse gesteuert: die Umwandlung der Schule in eine gebundene Ganztagsschule, die Umstrukturierung der jahrgangshomogenen Klassen in jahrgangsübergreifende Lerngruppen, die Einführung der sechsjährigen Grundschule sowie die Etablierung der Inklusion aller sonderpädagogischen Förderschwerpunkte. Regine Seemann schreibt nebenberuflich Kriminalromane.