Interview

Julia Thurner: „Als Lehrerin bin ich konstant eine Lernende geblieben“

von Anja Reiter
mit Thomas Strasser und Julia Thurner
veröffentlicht am 03.12.2022
Lesezeit: 8 Minuten

Im Zuge der digitalen Transformation werden Lehrkräfte wieder zu Lernenden. Doch wie erlangen sie das nötige Wissen, um sich gemeinsam mit den Schüler:innen durch die Kultur der Digitalität zu navigieren? Thomas Strasser, Professor für technologiegestütztes Lernen und Lernen an der Pädagogischen Hochschule Wien, und Julia Thurner, pädagogische Mitarbeiterin am Institut für Pädagogik und Schulpsychologie Nürnberg, über die unterschiedlichen Wege der Lehrkräftebildung in Deutschland und Österreich.

Dass digital gestützter Unterricht eine entsprechende Fachdidaktik braucht, ist unumstritten. Doch was müssen Lehrkräfte von heute und morgen wissen und können, um in der Kultur der Digitalität zu unterrichten? Diese und andere Fragen waren Thema bei der Konferenz Bildung Digitalisierung 2022 im Cafe Moskau in Berlin. In seiner Keynote „A Walk on the Wyld Side“ nahm Prof. Dr. Thomas Strasser, Lehrer:innenfortbildner und Fachdidaktiker an der Pädagogischen Hochschule Wien, die Zuhörer:innen auf gleich mehrere fachdidaktische Erkundungstouren im Zeichen einer interdisziplinären Lehrkräftebildung mit. Dabei reflektierte er so manches digitale Buzzword kritisch – und sprach sich gegen eine Schwarz-Weiß-Dichotomie zwischen „Analog-Aficionados und Digi-Superstars“ aus.

In der anschließenden Panel-Diskussion diskutierte Thomas Strasser mit der Bildungsforscherin Katharina Scheiter von der Universität Potsdam, Ulrike Linz von der Hessischen Lehrkräfteakademie, dem international weit gereisten Lehrer und Blogger Alexander Brand und Julia Thurner vom Institut für Pädagogik und Schulpsychologie Nürnberg über das Thema „Visionen für die Lehrkräftebildung“. Julia Thurner machte in ihrem Statement klar, wie sich die Rolle der Lehrkraft im Zuge der digitalen Transformation verändert – und wie in Sachen Lehrkräftebildung eine bessere Vernetzung zwischen den Bundesländern gelingen kann. Im Doppel-Interview sprechen Thomas Strasser und Julia Thurner über die Zukunft der Lehrkräftebildung in Österreich und in Deutschland.

Julia Thurner ist pädagogische Mitarbeiterin am Institut für Pädagogik und Schulpsychologie der Stadt Nürnberg (IPSN). Hier bildet sie Lehrkräfte fort und begleitet Schulentwicklungsprozesse rund um eine veränderte Kultur des Lehrens und Lernens. Zuvor war sie zehn Jahre lang als Englisch- und Spanischlehrerin an der Montessori-Schule Herzogenaurach tätig.

Frau Thurner, Sie haben zehn Jahre lang als Lehrerin an einer Montessori-Schule unterrichtet. Inwiefern haben Sie sich schon als Lehrerin als Lernende begriffen?

Julia Thurner: Seit meinem Studium bin ich konstant eine Lernende geblieben. Das hat auch damit zu tun, dass ich selbst sehr neugierig bin. Ich mache stets meine Erfahrungen, lerne weiter und verbessere meine Lehre. Sich auf die Bedarfe der Kinder und Jugendlichen einzustellen, ist auch in der Montessori-Pädagogik sehr wichtig.

Lehrkräfte als Lernende – das wird auch im Zuge der digitalen Transformation immer wichtiger. Wie ändert sich die Rolle von Lehrkräften in der Kultur der Digitalität?

Julia Thurner: Für mich ist die Reformpädagogik die Basis für alles, was sich verändern muss – auch in der Kultur der Digitalität. Maria Montessori hat gesagt, die Lehrkraft müsse passiv werden, damit das Kind aktiv werden kann. Manche sprechen von der Transformation vom „the sage on the stage“ zu „the guide by the side“. Als Lehrkraft muss man nicht immer leiten, sondern kann vielmehr begleiten. Man gibt den pädagogischen Lernraum vor, in dessen Rahmen die Kinder und Jugendliche Freiräume brauchen, um sich zu entfalten.

Thomas Strasser: Uns geht es in der Lehrkräftefortbildung vor allem darum, dass das Thema Haltung neu gedacht wird. Oftmals ist noch das Bild da: Die Lehrkraft ist Wissensvermittlerin. Doch durch das Internet wurde der Zugang zu Wissen demokratisiert. Damit wird auch ein Paradigma umgestürzt: Die Lehrkraft muss nicht immer alles wissen, sie wird zur Begleiterin. Das kann man „Facilitator“ nennen oder auch „Scaffolder“, also Gerüstbauer – ein Ausdruck, den der russische Psychologe Lew Semjonowitsch Wygotski geprägt hat. Weil ich auch Fachdidaktiker bin, habe ich dennoch hin und wieder Schwierigkeiten mit dem ausschließlichen bzw. dominanten Fokus auf Begriffe wie den 4K-Skills, also Kreativität, kritisches Denken, Kollaboration und Kommunikation. Das sind wichtige Fähigkeiten, zusätzlich braucht es aus meiner Sicht dennoch eine fachkompetente Lehrkraft mit fundiertem Fachwissen. Nur wer fachlich sattelfest ist, kann auch die die Rolle des „Facilitators“ auszuüben.

Foto: Phil Dera / CC BY 4.0

Zur Person

Thomas Strasser ist Professor für Fremdsprachendidaktik und technologieunterstütztes Lernen und Lehren an der Pädagogischen Hochschule Wien. Darüber hinaus bildet er Lehrkräfte weiter und arbeitet als Berater für internationale Bildungseinrichtungen. Thomas Strasser fungiert als Gutachter von wissenschaftlichen Publikationen im Bereich Fremdsprachendidaktik, Lehrkräftebildung, KI, Social Media, Mobiles Lernen sowie als Autor von Schul- und Methodikbüchern (EFL/DaF).

Mit dem Schuljahr 2022/23 wurde an österreichischen Mittelschulen und AHS-Unterstufen der neue Pflichtgegenstand „Digitale Grundbildung“ eingeführt. Was genau wird österreichischen Schüler:innen im Rahmen dieses neuen Faches vermittelt?

Thomas Strasser: Ich durfte zum Curriculum Feedback geben. Bei der Gestaltung des Lehrplans gab es den klassischen Diskurs zwischen Informatiker:innen und Mediendidaktiker:innen. Die einen wollten viel Coding, Netzwerktechnik und Hardware in den Lehrplan integrieren, die anderen mehr Quellenkritik, Popkultur im Sinne von TikTok und die Diskussion über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalität. Wir haben versucht, hier einen Kompromiss zu schaffen, also informatisches Wissen und Medienbildung zu vereinen.

Frau Thurner, in den meisten deutschen Bundesländern, darunter auch Bayern, ist digitale Bildung Querschnittsmaterie. Wäre ein Schulfach aus Ihrer Sicht sinnvoll?

Julia Thurner: Ich bin da hin- und hergerissen. Dass das Thema durch ein eigenes Schulfach einen größeren Fokus bekommt, befürworte ich sehr. Andererseits gibt es in den verschiedensten Fachbereichen genügend Anknüpfungspunkte, in denen wir die Kultur der Digitalität in den Unterricht integrieren können. Leider fehlt es einem Großteil der Lehrkräfte aber an Wissen, um genau das zu tun. Es ist an vielen Stellen ein Henne-Ei-Problem. Wenn wir in die Zukunft gucken, sollte die Integration aber der Weg sein, den wir gehen müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dauerhaft ein ausgegliedertes Fach geben wird. 

Thomas Strasser: Ich stimme zu, dass es der Idealfall ist, das Thema der Digitalität fachintegrativ zu unterrichten. In Österreich haben wir das bereits versucht – auf quasi freiwilliger Basis, indem wir eine gewisse Zahl an Stunden für die digitale Grundbildung freigeben. Nur leider hat das bei Lehrer:in X besser funktioniert als bei Lehrer:in Y. Nun versuchen wir einen gewissen Grad an Verbindlichkeit zu schaffen. Über ein Fach, das die Basics der digitalen Grundbildung vermittelt, wird auch eine Grundlage geschaffen, auf die Lehrkräfte in anderen Fächern anknüpfen können.

» Nur wer fachlich sattelfest ist, kann auch die die Rolle des „Facilitators“ auszuüben.«

Thomas Strasser

Was muss man können, um „Digitale Grundbildung“ zu vermitteln?

Thomas Strasser: Momentan bieten wir einen Hochschullehrgang an, eine Art Schnellimpfung, um die Basics der digitalen Grundbildung zu vermitteln. Der Lehrgang richtet sich an erfahrene Kolleg:innen, die ein Jahr lang berufsbegleitend einen 30-Credits-Lehrgang besuchen. Die Themen sind vielfältig: Was sind die gesellschaftlichen Implikationen der Digitalisierung? Wie kann ich Coding in meinen Unterricht integrieren? Warum ist Tiktok so beliebt? Ich selbst fokussiere mich mehr auf das geplante Hochschulstudium, das bald angeboten werden soll. Dort werden im Rahmen einer vier- bis sechsjährigen Ausbildung die Inhalte vermittelt, um das Schulfach „Digitale Grundbildung“ zu unterrichten. Auch hier gibt es wieder Grabenkämpfe zwischen den Informatiker:innen und Medienpädagog:innen und -didaktiker:innen. Ich persönlich finde, dass wir alles daran setzen müssen, ein nachhaltiges Lehramtsstudium anzubieten, das Trends und Entwicklungen antizipiert, kritisch-reflektiert und vor allem die gesellschaftlichen Implikationen einer Kultur der Digitalität berücksichtigt. Und da muss nach meinem Geschmack nicht ganz so viel Informatik dabei sein.

Frau Thurner, wie werden in Deutschland Lehrkräfte vorbereitet, um die digitale Querschnittsmaterie neben ihren Fächern zu unterrichten? Passiert bereits ausreichend?

Julia Thurner: Ich kann natürlich vor allem für Bayern sprechen, hier kann definitiv mehr gemacht werden. Es gibt zwar immer wieder Initiativen, digitale Inhalte vermehrt im Lehramtsstudium zu integrieren, aber es ist ein zäher Prozess. In meiner Arbeit am Institut für Pädagogik und Schulpsychologie der Stadt Nürnberg engagiere ich mich im Bereich der medienpädagogischen Fortbildung. Ich versuche Lehrkräfte zu erreichen und sie zu motivieren, sich vermehrt den digitalen Themen zu widmen. Aktuell haben wir unser altes Medienzentrum in einen Erlebnisraum für Lehrkräfte verwandelt. Die DVDs sind gewichen, stattdessen können Lehrkräfte in dem erlebbaren Raum die Welt der Kinder und Jugendlichen kennenlernen: Was ist Tiktok? Welche Spiele begeistern die Kids? Welche Tools kann ich in meinem Fach verändern? Ich hoffe, dass ein solches lokales Angebot mehr Lehrkräfte erreichen kann – trotz der Mehrfachbelastung durch die Pandemie und den Lehrkräftemangel.

»Als Lehrkraft muss man nicht immer leiten, sondern kann vielmehr begleiten.«

Julia Thurner

Lehrkräftemangel, Zeitnot, Überbelastung: Wie viel Interesse haben Lehrkräfte in Österreich an dem neuen Lehrgang? Gibt es eine Entlastung für sie, wenn sie sich für den Lehrgang verpflichten?

Thomas Strasser: Eine Lehrentlastung ist grundsätzlich nicht vorgesehen. Dennoch haben wir großes Interesse und viele Anmeldungen. Wir hatten vermutet, dass sich viele Informatiker:innen anmelden würden, stattdessen haben wir eine gute Mischung aus unterschiedlichen Fächern – und sowohl erst seit kurzem im Schuldienst befindliche als auch erfahrene Lehrkräfte. Viele sehen das neue Fach als Möglichkeit für einen Neustart. Ich attestiere den Lehrkräften Innovationskraft und Tatendrang. Empirisch ist das aber noch nicht bewiesen. Die Motivationspunkte der Lehrkräfte möchte ich begleitend erforschen.

Frau Thurner, was muss in Deutschland geschehen, um der neuen Kultur der Digitalität gerecht zu werden und die Lehrkräfte noch besser auf das Unterrichten der Querschnittsmaterie vorzubereiten?

Julia Thurner: Als Institut können wir bei Schulentwicklungsprojekten begleiten – von einzelnen Schulen oder Schulen im Verbund. An den Schulen direkt sollten sich kollegiale Hospitationen und Lern-Buddies etablieren: Lehrkräfte, die Expertise in einem bestimmten Bereich haben, können Kolleg:innen bei Lernprozessen begleiten. Ein solch niedrigschwelliges System, das von einer zentralen Stelle mit neuen Impulsen aus der aktuellen Wissenschaft gefüttert wird, kann auch die breite Masse erreichen.

Anja Reiter

Anja Reiter arbeitet als freie Journalistin in Bonn, vor allem zu Bildungs-, Umwelt-, Digitalisierungs- und Gesellschaftsthemen. Zu ihren journalistischen Auftraggebern zählen Die ZEIT, die Süddeutsche Zeitung und das Greenpeace Magazin. Daneben hilft sie bei der Konzeption von Magazinen, gibt Workshops für journalistischen Nachwuchs und moderiert Podiumsdiskussionen. Außerdem ist sie im Vorstand der Freischreiber aktiv, dem Berufsverband der freien Journalist:innen. 

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